Simple Mechanics
Science Fiction, 2024
Science Fiction, 2024
Aus der Ferne kann ich die Menschheit rufen hören.
Meine Finger schubsen energisch ein paar unwillige Zahlen in meine Treibstoffkalkulation. Die andere Hälfte der Folie scrollt unbeirrt weiter lokale Nachrichten, Rohstoffpreise und die fünf tagesbesten NRecs der TikiTiki-Dance-Challenge an mir vorbei. Ersatzteile. Darf ich nicht vergessen.
„Birdy?“
Von der Folie aufschauen ist immer ein bisschen auftauchen. Der Lärm der Hafenbar schlägt wie eine Wasserwand über mir zusammen. Triebwerksrauschen und Laderampenhydraulik vermischt mit Wiedersehensfreude und zu viel Schwarzbrand.
Der Mann mir gegenüber hat sich mit dazugemischt. Tiefdunkel, die Haare kurz und frisch in Bernstein-Goldstaub koloriert. Schüchtern hält er sein Plast in der Hand, randvoll mit frisch gepresstem Pink und starrt mir unsicher ins Gesicht.
„Birdy?“, fragt er nochmal, und schiebt dann dreißig Sekunden weißes Rauschen hinterher.
„Ja“, sage ich abwesend. »Gleich.«
Mein Blick will schon wieder in die Folie tauchen, Ersatzteile, ich darf das wirklich nicht vergessen, sonst fällt mir LIDDI bei der nächsten Bergung endgültig auseinander, und ich mag die Kleine, auch, wenn ihr Design ein bisschen aus der Mode gekommen ist. Ich meine, ganz ehrlich –
„Birdy.“
Diesmal schaue ich bewusst auf. Manchmal versinke ich so tief in Gedanken, dass ich die Orientierung verliere. Vier Monate allein, weit draußen, das macht was mit dir. Jedes mal. Mein Blick stolpert umher, auf der Suche nach bekannten Mustern. Eigentlich will ich mit meinen Augen an Keen hängen bleiben, der mir noch immer schüchtern gegenüber sitzt. Aber dann landen sie doch wieder in der Folie, wenn auch nur kurz, rechts oben. Als Longhauler verlierst du irgendwann den Überblick. Orte sind eher wie Zeiten, wenn dein Zuhause ein Schiff ist. Du bist nicht woanders, es ist nur die Woche, in der sich der Second-Hand-Hydraulik-Shop gegenüber plötzlich in ein betongraues Treibstoffdepot verwandelt hat. Und in 14 Tagen wird an genau der selben Stelle die unendliche Weite des Luhmann-Sektors vor dir liegen, einfach ein gigantisches Nichts mit zwei Sonnen darin, und vier Tage später ist der Hydraulik-Schuppen wieder da, wenn auch spiegelverkehrt.
Die einzige Konstante ist deine Folie, und die Headline rechts oben, die dir sagt, wie deine Woche von denen genannt wird, für die sie tatsächlich noch ein Ort ist.
Dieser hier zum Beispiel. „Grünland Orbital“. Ehemaliger Forschungsorbiter. Seit knapp 300 Jahren public domain. Und bei Leuten wie mir vor allem deshalb extrem beliebt, weil du alle paar Wochen mit ´nem simplen Hohmann-Transfer den Slingshot über Texel ins Nachbarsystem hinbekommst. Das Ding ist so einfach, das kann ich dir im Kopf rechnen.
Grünland ist aus diesem Grund für gewöhnlich vollgestopft mit Menschen, die ´n bisschen zu sehr auf Orbitalmechanik abfahren und bei denen es auf ein paar Tage mehr oder weniger wirklich nicht ankommt. Bergungscrews. Longhauler. Alle eben, die weit draußen zu Hause und in der Gesellschaft, wenn überhaupt, eher zu Besuch sind. Genau meine Leute.
Wir leben und denken in Umlaufbahnen, nicht geraden Linien. Lassen uns über Monate von System zu System treiben. Austausch über Satelliten-Memos, die wir erst Wochen später abhören. Wie stehen da die Chancen, einander zu begegnen? Oder, verdammt, miteinander befreundet zu sein?
Und dennoch - funktioniert es. Irgendwie. Wir finden uns. Entgegen der Wahrscheinlichkeiten.
Jetzt muss nur noch mein Kopf den Trägheitsausgleich hinbekommen. Draußen tickst du anders. Langsamer, vielleicht. Dein Hirn isoliert dich und verzerrt die Zeit. Void-Mode nennen wir das. Man vergisst ein wenig, wie es ist, ein Mensch zu sein. So wie ein Wort zu einem simplen Laut wird, Stück für Stück seinen Sinn verliert, wenn man es nur oft genug wiederholt. Manche vergessen dann, zu essen.
Andere machen einen Spaziergang ohne Druckanzug.
Es dauert eine Weile, da raus zu kommen. Die Leere wieder als Raum zu begreifen. Manchmal hilft da ein Typ wie Keen, der dich unerbittlich vollsendet, bis du endlich den Kopf aus der Void ziehst.
»Ersatzteile«, sage ich dann, und schaffe es endlich, vollends aus der Folie aufzutauchen. »Darf ich nicht vergessen.«
Er lacht.
»Welcome back, Birdy Bird«, grinst er dann. »Dachte schon, ich muss dir irgendwann das Genick brechen, damit du mal woanders hinkuckst.«
Ich seufze. Keen ist so ´ne richtige Bojen-Katze, aber ich mag ihn irgendwie.
Die Witze über Knochenbrüche gehören genauso zum Job dazu wie die hohe Todesrate in den ersten 3 Jahren.
Jeder Com-Satellit hat genau eine Art, wie du mit Druckanzug rein- und rauskriechen kannst, ohne stecken zu bleiben. Wenn du die nicht kennst - bleibt dir meist nichts anderes übrig, als dir ´n Arm oder ´n Bein zu brechen, damit du wieder rauskommst.
»Wie lange bleibst du«, frage ich immer noch etwas mechanisch. Gerade interessiert es mich nicht, aber es wird mich interessieren, das weiß ich inzwischen. Hoffentlich bleibe ich lange genug, damit dieser verdammte Übergang ins Menschsein sich wenigstens lohnt.
Manchmal denke ich, dass es vielleicht einfacher wäre, für immer dort draußen zu bleiben. Diese Wechsel sind hart. Ich atme tief aus. Dann schüttle ich den Kopf, um den Gedanken zu zerstreuen. Ich voide noch viel zu sehr, das merke ich. Keen anscheinend auch. Wortlos hat er ein zweites Pink bestellt und in meine Hand gedrückt. Es funktioniert. Die bittere Spitze von Janbeeren mit Schwarzbrand rammt sich unerbittlich süß durch den Gaumen direkt in meine Gedanken. Nur sterben schmeckt besser.
»Boh!«, japse ich. »Sind die sicher, dass das trinkbar ist?«
»Steht zumindest auf der Karte.«
Ich keuche.
Dann winken wir das dritte Pink an unseren Tisch.
Aus der Ferne kann ich die Leere rufen hören.
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